Durch die Ausgangssperren im Zuge der Maßnahmen gegen COVID-19 hat sich gezeigt, dass das Gesellschaftsrecht für einen solchen Fall nicht hinreichend gerüstet ist. Der Gesetzgeber justiert schrittweise mit temporären Regelungen nach. Insbesondere behandelt das COVID-19-GesG (Gesellschaftsrechtliches COVID-19-Gesetz, BGBl I 16/2020, geändert durch BGBl I 24/2020) folgende Themen:
- Versammlungen von Gesellschaftern und Organmitgliedern sollen auch ohne physische Anwesenheit der Teilnehmer durchgeführt und Beschlüsse auch auf andere Weise gefasst werden können (§ 1 Abs 1). Folgende Rechtsformen sind erfasst:
- Kapitalgesellschaften
- Personengesellschaften
- Genossenschaften
- Privatstiftungen
- Vereine
- Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit
- kleine Versicherungsvereine
- Sparkassen
Erforderlich ist jedoch noch die Erlassung einer Verordnung durch die Bundesministerin für Justiz, womit die Hauptlast der Regelungen vom Gesetzgeber auf den Verordnungsgeber ausgelagert wird: Es gilt nämlich festzulegen, welche Kommunikationswege eine „möglichst hohe Qualität der Rechtssicherheit bei der Willensbildung gewährleisten“. Die Erlassung dieser wichtigen Verordnung bleibt abzuwarten.
- Da gesellschaftsrechtliche Gesetze für ordentliche Gesellschafterversammlungen Fristen kennen (die mit der Rechnungslegung zusammenhängen), verlängert das Gesetz die Frist auf 12 Monate (§ 2 Abs 1-3 COVID-19-GesG). Dies betrifft:
- ordentliche Hauptversammlung einer AG (abweichend von § 104 Abs 1 AktG)
- Generalversammlung einer Genossenschaft (abweichend von § 27a GenG)
- Beschlussfassung gemäß § 35 Abs 1 Z 1 GmbHG in der GmbH
- Sofern in Gesellschaftsverträgen (Satzungen, Statuten, einschließlich Stiftungsurkunden) Fristen oder Termine für bestimmte Versammlungen festgelegt sind, können diese auch zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2020 stattfinden (§ 2 Abs 4 COVID-19-GesG).
- Wenn aufgrund von COVID-19 die Durchführung von Aufsichtsratssitzungen bis zum 30. April 2020 nicht möglich ist, stellt dies keine Verletzung von § 94 Abs 3 AktG, § 30i Abs 3 GmbHG oder § 24d Abs 3 GenG dar (§ 2 Abs 5 COVID-19-GesG).
- In Zusammenhang mit Rechnungslegungsunterlagen: Wenn es den gesetzlichen Vertretern einer Kapitalgesellschaft, dem Vorstand einer Genossenschaft oder dem Leitungsorgan eines Vereins infolge der COVID-19-Pandemie nicht möglich ist, die in § 222 Abs 1 UGB, § 22 Abs 2 GenG, § 21 Abs 1 VerG oder § 22 Abs 1 oder Abs 2 VerG genannten Unterlagen in den ersten fünf Monaten des Geschäftsjahrs aufzustellen und den Mitgliedern des Aufsichtsrats vorzulegen, so kann diese Frist um höchstens vier Monate überschritten werden. Dasselbe gilt für andere Unterlagen der Rechnungslegung, die innerhalb der für die Vorlage des Jahresabschlusses geltenden Fristen vorzulegen sind (§ 3a Abs 1 COVID-19-GesG). Abweichend von § 277 Abs 1 UGB sind die dort genannten sowie sämtliche gleichzeitig offenzulegenden Unterlagen spätestens zwölf Monate nach dem Bilanzstichtag einzureichen. Abweichend von § 277 Abs 2 UGB hat die Veröffentlichung spätestens zwölf Monate nach dem Bilanzstichtag zu erfolgen (§ 3a Abs 2 COVID-19-GesG). § 3a ist auf Unterlagen der Rechnungslegung für Bilanzstichtage anzuwenden, die vor dem 1. August 2020 liegen.
Die gesetzlichen Maßnahmen zeigen auf, dass das Gesellschaftsrecht im Allgemeinen wie auch zahlreiche Gesellschaftsverträge nicht genügend Flexibilität aufweisen, um mit Sondersituationen wie einer Pandemie umzugehen. Es bestehen allerdings Unterschiede bei den einzelnen Rechtsformen.
Aus Gründen der Vorsicht und Sorgfalt wäre es angezeigt, dass sich die Gesellschaften für derartige Fälle rüsten und auch ihre Gesellschaftsverträge auf Flexibilisierungsbedarf überprüfen. Freilich darf nicht übersehen werden, dass auch die geeigneten Kommunikationswege nach Maßgabe der technischen (und finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen. Ein Patentrezept für alle Gesellschaften wird es (wohl) nicht geben, was sich auch an den gesetzgeberischen Maßnahmen zeigt, die zwar hilfreich sind, aber möglicherweise nicht alle „Härtefälle“ in geeigneter Form erfassen. Weitere Schlussfolgerungen werden sich nach Erlassung der vorerwähnten Verordnung ziehen lassen.
Im Folgenden ein Überblick über die Beschlussfassungsmöglichkeiten nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht.[1] Zu bedenken ist freilich, dass die nachträgliche Ausnutzung bisher ungenutzter gesetzlicher Gestaltungsspielräume möglicherweise an Grenzen stößt, nämlich wenn für eine Satzungsänderung eine Präsenzversammlung notwendig ist, die sich nach Maßgabe der aktuellen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht durchführen lässt.
GmbH:
- Gesellschafterbeschlüsse: Diese müssen nicht zwingend in einer Generalversammlung gefasst werden. Auch schriftliche Beschlussfassungen sind grundsätzlich möglich (§ 34 GmbHG), ebenso einhellige Beschlüsse aller Gesellschafter durch schlüssige Erklärungen. Andere Formen der Beschlussfassung (etwa Telefonkonferenz, Videokonferenz) können – obgleich gesetzlich nicht erwähnt – nach zutreffender Ansicht bei Einverständnis aller Gesellschafter im Einzelfall verwendet werden (s. Baumgartner/Molln-huber/U. Torggler in Torggler, GmbHG § 34 Rz 18; Harrer in Gruber/Harrer, GmbHG2 § 34 Rz 75; vgl auch Enzinger in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG § 34 Rz 10).
- Die Art der Beschlussfassung durch Geschäftsführer (erforderlich bei Kollektivgeschäftsführung) ist gesetzlich nicht geregelt und daher flexibel.
- Bezüglich des Aufsichtsrats s unten (AG).
Aktiengesellschaft:
- Hauptversammlung: Eine Präsenzversammlung an einem Ort im Inland wird vorausgesetzt. Das allgemeine Gesellschaftsrecht kennt keine rein virtuelle Hauptversammlung. Allerdings können Möglichkeiten der Fernteilnahme genutzt werden, was entsprechende Satzungsregelungen voraussetzt: §102 Abs 3 AktG erlaubt Fernteilnahme durch elektronische Kommunikation, insbesondere zugeschaltete Satellitenversammlungen, Fernteilnahme (von einem beliebigen Ort aus mittels einer akustischen und allenfalls auch optischen Zweiweg-Verbindung in Echtzeit), Fernabstimmung (s auch § 126 AktG). Zur brieflichen Stimmabgabe s § 127 AktG.
- Aufsichtsrat: Die Beschlussfassung ist ex lege flexibel. Regelfall ist zwar die Sitzung (die grundsätzlich zumindest vierteljährlich stattzufinden hat), doch sind Beschlussfassungen außerhalb von Sitzungen zulässig (schriftlich, fernmündlich oder in anderer vergleichbarer Form; § 92 Abs 3 Satz 2 AktG) – das Widerspruchsrecht des einzelnen Mitglieds darf nur pflichtgemäß ausgeübt werden.
- Vorstand: Die Art der Beschlussfassung ist ungeregelt. In Betracht kommen zB auch Telefon- und Videokonferenzen sowie schriftliche Beschlussfassungen (auch per E-Mail oder Fax), wobei auf eine sorgfältige Willensbildung und die Mitwirkungsmöglichkeit jedes Organmitglieds zu achten ist.
Personengesellschaften (OG, KG, GesbR):
- Beschlussfassungen der Gesellschafter sind in der Regel formlos möglich. Falls gesellschaftsvertragliche Formvorgaben bestehen, ist durch Auslegung zu klären, ob es sich um Wirksamkeitserfordernisse oder bloß um Ordnungsvorschriften handelt. Die Gesellschafter können einvernehmlich von Formvorgaben abweichen bzw den Gesellschaftsvertrag diesbezüglich auch ändern.
Genossenschaft:
- Generalversammlung: Die Genossenschafter fassen ihre Beschlüsse in Präsenzversammlungen; Umlaufbeschlüsse sind nicht vorgesehen (Siebenbäck in Dellinger, GenG2 § 27 Rz 2b, 63: keine Analogie zu § 34 GmbHG).
- Aufsichtsrat: Beschlüsse werden grundsätzlich in Sitzungen gefasst. Beschlussfassungen außerhalb von Sitzungen müssten im Genossenschaftsvertrag vorgesehen werden (§ 24c Abs 3 GenG). Für Videokonferenzen, die eine allseitige Sicht- und Hörbarkeit gewährleisten, wird in der Literatur eine Gleichstellung mit der Sitzung befürwortet (s Dellinger/Steinböck in Dellinger, GenG2 § 24c Rz 13).
- Vorstand: Die Beschlussfassung ist gesetzlich nicht geregelt. Der Genossenschaftsvertrag und eine von der Generalversammlung erlassene Geschäftsordnung können Regelungen enthalten. Voraussetzung für eine fehlerfreie Beschlussfassung ist grundsätzlich, dass alle Vorstandsmitglieder ordnungsgemäß eingeladen wurden. Schriftliche Beschlüsse werden als zulässig angesehen, sofern innergesellschaftliche Regelungen dem nicht entgegenstehen.
Ideeller Verein:
- Die Organstruktur des ideellen Vereins kann weitgehend frei geregelt werden. Das Vereinsgesetz 2002 verlangt aber insbesondere die Existenz einer Mitgliederversammlung (ggf einer Delegiertenversammlung), die grundsätzlich spätestens alle 5 Jahre einzuberufen ist (§ 5 Abs 2 VerG), sowie eines Leitungsorgans. Die Vereinsstatuten haben die Erfordernisse für gültige Beschlussfassungen der Vereinsorgane zu regeln (§ 3 Abs 2 Z 9 VerG).
- Die Mitgliederversammlung ist grundsätzlich eine Präsenzversammlung, doch können die Statuten auch eine Fernteilnahme ermöglichen. Beschlussfassungen außerhalb einer Präsenzversammlung sind nach Maßgabe der Statuten möglich (zB virtuelle Mitgliederversammlungen), ebenso wenn alle Mitglieder mit der konkreten Form der Beschlussfassung einverstanden sind (vgl auch Walch in Schopper/Weilinger, VerG § 5 Rz 224).
Eine Anmerkung zum Schluss. Das COVID-19-GesG enthält mit § 2 Abs 5 eine Regelung, welche der Relativierung bzw auch der ergänzenden Erläuterung bedarf:
- Der Wortlaut legt nahe, dass eine Nichtabhaltung einer Aufsichtsratssitzung auch dann rechtswidrig sein kann, wenn die Abhaltung der Sitzung gar nicht möglich ist. Dem kann nicht gefolgt werden, weil die Aufsichtsratsmitglieder nicht gehalten sind, Unmögliches zu bewerkstelligen. Es besteht diesfalls nicht einmal eine objektive Pflichtwidrigkeit, zumal die Verbotsnormen im Zusammenhang mit COVID-19-Maßnahmen einzuhalten sind.
- Teilweise wird vertreten, dass „qualifizierte Videokonferenzen“ auch auf die Mindestsitzungsfrequenz angerechnet werden können (strittig; dafür etwa Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2 § 92 Rz 97, § 93 Rz 6 ff). Unabhängig davon: Wenn Videokonferenzen oder Telefonkonferenzen oder sonstige Formen der Beschlussfassung faktisch möglich sind (wovon weiterhin auszugehen sein wird), haben die Aufsichtsratsmitglieder davon pflichtgemäß Gebrauch zu machen.
- § 2 Abs. 5 COVID-19-GesG bezweckt daher wohl nur eine Klarstellung dahingehend, dass konkret die Nichtabhaltung einer Präsenzsitzung sanktionslos ist.
[1] Vorausgesetzt wird, dass der individuelle Gesellschaftsvertrag keine Einschränkungen vorsieht.