ALLGEMEINE GESCHÄFTSBEDINGUNGEN

Der sonderbare Fall „Gupfinger“

Im Rahmen von AGB stellt sich immer wieder die Frage, welche weiteren Folgen die Nichtigkeit einer Klausel nach sich zieht. Typischerweise wird die Lücke, die durch Wegfall der unzulässigen Klausel entsteht, durch dispositives Recht aufgefüllt. Nach der fortgesetzten restriktiven Rechtsprechung des EuGH soll dies aber nicht bei Verbraucherverträgen (B2C) gelten (auch die geltungserhaltende Reduktion und die ergänzende Vertragsauslegung seien nach Ansicht des EuGH nicht anwendbar; siehe etwa EuGH C-81/21).

Das Motiv für diese drastische Ansicht ist die Abschreckung: Der Unternehmer soll nicht mit der Zulässigkeit einer zweifelhaften Klausel spekulieren und sich notfalls – sollte sich die Klausel dann doch als nichtig herausstellen – dadurch „retten“ können, dass er sich dann zumindest auf dispositives Recht beruft. Er soll vielmehr dadurch pönalisiert werden, dass in einem solchen Fall schlichtweg weder die inkriminierte Klausel noch das dispositive Recht anwendbar ist.

Welche seltsamen Blüten diese Rechtsprechung treibt, wird anhand der vom OGH vorgelegten Rechtssache C-625/21 – Gupfinger (G GmbH) ganz deutlich.

In den AGB der als Verkäuferin auftretenden G GmbH findet sich die Klausel, sie könne im Falle des unberechtigten Rücktrittes durch einen Käufer wahlweise einen pauschalierten Schadenersatz in Höhe von 20% des Bruttorechnungsbetrages oder den tatsächlich entstandenen Schaden verlangen. Während die erste Alternative (Schadenersatz iHv 20%) nach der österreichischen Rechtsprechung unzulässig ist, entspricht die zweite Alternative dem dispositiven Recht (§ 921 ABGB).

Nachdem der Verbraucher unstreitig unberechtigt von dem Kaufvertrag zurückgetreten ist, klagt die G GmbH unter Berufung auf § 921 ABGB (und nicht auf die inkriminierte Klausel!) den tatsächlichen Schaden ein, den die zweite Instanz zuspricht.

Anders sieht dies aber der EuGH: Er wertet die konkrete AGB-Klausel als Verstoß gegen Art 6 und 7 Klausel-Richtlinie (RL 93/13/EWG), wobei dies nicht nur für die erste Alternative (Schadenersatz iHv 20%), sondern – ohne ein aussagekräftiges Argument zu nennen (!) – auch für die zweite Alternative der inkriminierten Klausel gelten solle (Rn 33 f): Die gegenständliche Klausel sei unteilbar (!). Dispositives Recht dürfe der Abschreckung wegen nur ausnahmsweise angewendet werden, und zwar dann, wenn der Vertag ohne Lückenschließung durch das dispositive Recht in seiner Gesamtheit (zum Nachteil des Verbrauchers) unwirksam wäre (Rn 33, 35, 41). Wann das der Fall sein soll, ist bis dato nicht abschließend geklärt. Der OGH hat in dem Anlassfall nun zu entscheiden, ob der Kaufvertrag „nach Streichung der streitigen Klausel rechtlich“ fortbestehen kann (wovon auszugehen ist).

Sollte der Kaufvertrag ohne die gegenständliche AGB-Klausel fortbestehen können, würde der G GmbH mangels Anwendung der inkriminierten Klausel und des dispositiven Rechts (§ 921 ABGB) – trotz unzweifelhaft durch den Verbraucher schuldhaft verursachten Schadens – gar kein Schadenersatz zugesprochen.

Hinweise für die Praxis:

Nach der Ansicht des EuGH kann die bloße Existenz einer gröblich benachteiligenden Klausel die Lückenschließung durch dispositives Recht ausschließen, selbst wenn sich der Verwender nicht auf diese Klausel beruft.

Zu beachten ist, dass die gegenständliche Rechtsprechung „nur“ für AGB gegenüber Verbrauchern und damit nicht auf den B2B-Bereich und im Einzelnen ausgehandelte Verträge/Vertragsbestimmungen anzuwenden ist.

Der EuGH beruft sich stets auf Art 6 und 7 Klausel-Richtlinie, die als Grundlage für § 879 Abs 3 ABGB (gröbliche Benachteiligung) fungieren. Daraus folgt, dass bspw Verstöße gegen das Transparenzgebot (§ 6 Abs 3 KSchG), das seine Grundlage in Art 5 Klausel-Richtlinie hat, nicht von der hier zitierten Rechtsprechung betroffen sind.

Diese vom EuGH entwickelten Grundsätze erfassen zudem ausweislich Art 4 Abs 2 Klausel-Richtlinie (und § 879 Abs 3 ABGB) nicht die Hauptleistungspflichten (etwa den Kaufpreis und dessen Höhe).

Ungeklärt ist weiterhin, was zu gelten hat, wenn die inkriminierte AGB-Klausel gegen (den Unternehmer bindendes einseitiges oder allseitiges) zwingendes Recht verstößt. Die gegenständliche Rechtsprechung zum dispositiven Recht kann nicht ohne Weiteres auf zwingendes Recht übertragen werden.

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