Neues Gewährleistungsrecht

Neue Ausübungsform der gewährleistungsrechtlichen Gestaltungsrechte – Hinweise für die Praxis!

Neue Ausübungsform der gewährleistungsrechtlichen Gestaltungsrechte

Seit Anfang 2022 gilt in Österreich ein modifiziertes Gewährleistungsrecht (BGBl. I 175/2021). Die Novelle fußt zum Teil auf der europäischen Warenkauf-Richtlinie (RL [EU] 2019/771), die die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie abgelöst hat. Eine wesentliche Änderung des Kerngewährleistungsrechts des ABGB betrifft die Form der Ausübung der gewährleistungsrechtlichen Gestaltungsrechte. Diese Änderung gilt unterschiedslos für Verträge zwischen Unternehmern und Privaten sowie zwischen ausschließlich Privaten oder ausschließlich Unternehmern.

  • Außergerichtliche Ausübung der gewährleistungsrechtlichen Gestaltungsrechte

Im ABGB wurde die gewährleistungsrechtliche Änderung bzw. die Beseitigung des Vertrages (zB. Kaufvertrag) modifiziert. Sofern die primären Gewährleistungsbehelfe der Verbesserung oder des Austausches nicht einschlägig sind, kann der Übernehmer der Sache (zB. der Käufer) gemäß § 932 ABGB nach wie vor Preisminderung begehren oder sich vom Vertrag – sofern der Mangel nicht bloß geringfügig ist – lösen. Rechtstechnisch handelt es sich hierbei um Gestaltungsrechte, die es dem Übernehmer ermöglichen, die bestehende Rechtslage einseitig zu ändern. Es bedarf hier keinerlei Mitwirkung oä. durch den Vertragspartner. Nach altem Recht mussten diese gewährleistungsrechtlichen Gestaltungsrechte gerichtlich geltend gemacht werden, das heißt durch Klage oder gerichtliche Einrede (sogenannten Gestaltungsklagerechte). So musste etwa die Aufhebung des Vertrages gerichtlich geschehen. Dafür hatte sich der Begriff der Wandlung etabliert. Die Rechtsgestaltungswirkung erfolgte dann durch Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung.

Das neue Recht spricht von Vertragsauflösung. Seit 01.01.2022 ist die Vertragsauflösung durch Willenserklärung ohne Mitwirkung durch ein Gericht vorgesehen. Die Gestaltungswirkung tritt diesfalls mit Wirksamwerden der Willenserklärung ein. Der entscheidende Moment dafür ist jener des Zuganges der Willenserklärung beim Vertragspartner.

Das Motiv eines Gestaltungsklagrechts besteht darin, dass ein in aller Regel kompetentes Gericht den Gestaltungsgrund mit all seinen mitunter weitrechenden Konsequenzen prüft. Tendenziell schwierige und in der Auswirkung schwerwiegende Gestaltungsrechte bedürfen daher im Ausgangspunkt der Beteiligung eines Gerichts, was man ganz besonders gut anhand der Scheidungsklage im Eherecht oder anhand der Ausschlussklage im Gesellschaftsrecht sehen kann. Die Ausübung durch Willenserklärung ist demgegenüber freilich die niederschwellige und oftmals durchaus zweckmäßige Variante.

Der österreichische Gesetzgeber argumentiert die Systemumstellung in Richtung außergerichtliche Geltendmachung mit zwingenden Vorgaben der Warenkauf-Richtlinie (RV 949 XXVII. GP, 26).

  • Hinweis für die Praxis

Weil der Eintritt der Gestaltungswirkung nach der neuen Fassung vom Zugang der Willenserklärung abhängt, ist eine entsprechende Dokumentation umso wichtiger. Im Falle der gerichtlichen Klärung obliegt es nämlich dem Gestaltungsberechtigten, den Zugang zu behaupten und zu beweisen. Aus Gründen der Beweisbarkeit empfiehlt sich – sofern nicht ohnedies vorgesehen – die Abgabe schriftlicher Willenserklärungen, etwa mittels Briefes oder E-Mail.

  • Zugang von Willenserklärungen: duale Theorie

Der Zugang richtet sich nach herrschender Auffassung nach der dualen Theorie. Der Maßstab ist ein objektiver, das heißt die Verkehrsauffassung.

Sofern eine Willenserklärung nicht vorab tatsächlich zur Kenntnis genommen wurde, gilt sie als zugegangen, wenn sie einerseits in den Machtbereich des Erklärungsempfängers gelangt ist. Machtbereich meint dabei die tatsächliche Verfügungsgewalt. Es muss nach gewöhnlichen Verhältnissen für den Erklärungsempfänger die Möglichkeit bestehen, vom Inhalt der Willenserklärung Kenntnis zu nehmen. Zum Machtbereich des Erklärungsempfängers zählen typischerweise dessen Briefkasten und dessen E-Mail-Postfach.

Andererseits ist derjenige Zeitpunkt entscheidend, in dem nach der Verkehrsauffassung mit der Kenntnisnahme durch den Erklärungsempfänger gerechnet werden kann. Wer sonn- oder feiertags einen Brief in den Postkasten wirft oder ein E-Mail verschickt, kann typischerweise nach der Verkehrsauffassung – trotz Vorhandensein der Willenserklärung im Machtbereich des Erklärungsempfängers – erst am nächsten Werktag mit dem Zugang der Willenserklärung rechnen.

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