KONZERNRECHT

OGH: Mehr Zuständigkeiten für den Aufsichtsrat im Konzern

In der Praxis kommt es mitunter vor, dass der Aufsichtsrat einer Muttergesellschaft im Konzern auch bei Geschäften und Maßnahmen, die in Tochtergesellschaften gesetzt werden, mitreden möchte. Ge­schäftsordnungen für Aufsichtsräte und Geschäftsführungen sehen daher manchmal vor, dass auch bestimmte Geschäfte in Tochter- und Enkelgesellschaften dem Aufsichtsrat der Muttergesell­schaft vorzulegen sind.

Dass der Aufsichtsrat keine unmittelbare Anordnungsbefugnis gegenüber Organen in Tochter- und Enkelgesellschaften hat, ließ sich der rechtswissenschaftlichen Literatur bereits geraume Zeit entneh­men und wurde in einer jungen OGH-Entscheidung (25. 11. 2020, 6 Ob 209/20h) bestätigt.

Man konnte bisher auch immer wieder in namhaften rechtswissenschaftlichen Werken lesen, dass der Aufsichtsrat aber das Leitungsorgan der Muttergesellschaft verpflichten könne, auf die Konzern­gesellschaften (im Rahmen des rechtlich Zulässigen) einzuwirken, dass bestimmte Geschäfte bzw. Maß­nahmen der Muttergesellschaft vorgelegt werden. Auch dem ist der OGH in der jüngsten Ent­scheidung gefolgt. Eine Begründung bzw. nähere Erörterung ist nicht erfolgt, wohl weil sich das Höchstgericht auf die in Deutschland und Österreich ganz verbreitete Ansicht stützen konnte. M.E. wird dabei aber übersehen, dass die Organisation des Konzerns nicht vom Aufsichtsrat der Muttergesellschaft vorzugeben ist, sondern dass dies grundsätzlich Sache des Geschäftsführungs­organs der Muttergesell­schaft ist. Der OGH-Entscheidung ist daher in diesem Punkt nicht zu folgen (s. schon Rauter in Straube/Ratka/Rauter, Wiener Kommentar zum GmbHG § 30j Rz. 112).

Abgesehen davon enthält die Entscheidung einige Aussagen, welche im Folgenden kurz wieder­gegeben werden. Hintergrund der Entscheidung war, dass eine Holdinggesellschaft (Aktiengesell­schaft) von ihrem Vorstand Schadenersatz verlangte, weil dieser als Vorstand der Tochtergesellschaft „Letters of Comfort“ mit Bezug auf eine Enkelgesellschaft ausgestellt und einem Kreditinstitut über­geben hatte. Für Bürgschaften, Garantien und Patronats­erklärungen sah eine Geschäftsordnung der Holdinggesellschaft einen Zustimmungsvorbehalt vor, welcher auch für verbundene Unterneh­men Geltung beanspruchte. Sowohl über das Vermögen der Enkelgesellschaft als auch über jenes der Toch­tergesellschaft wurden in der Folge Insolvenzverfahren eröffnet.

Aus der OGH-Entscheidung (Hervorhebungen hinzugefügt):

  • Der Begriff der Patronatserklärung ist als Mittel der Kreditsicherung eine Sammelbezeich­nung für eine Vielzahl von Erklärungen einer vom Kreditnehmer verschiedenen, zu diesem je­doch regelmäßig in einem Naheverhältnis stehenden Person, dem Patron, die einen unter­schiedlichen Inhalt haben können: Je nach ihrem Inhalt reichen sie von völlig unverbindlichen Erklärungen bis zum Garantievertrag […]“ (Anmerkung: Im konkreten Fall ging das Gericht aufgrund der Auslegung der Erklärung von einem verpflichtenden Charakter aus.)
  • Grundsätzlich ist […] nach herrschender Lehre eine gewisse „Konzernleitungspflicht“ des Vor­stands der Muttergesellschaft anzuerkennen […]. Die Organe der Muttergesellschaft leiten nicht nur die Muttergesellschaft; vielmehr erfasst die Leitungstätigkeit auch die Gesellschaften, an denen die Gesellschaft beteiligt ist […], weshalb sich die Organe der herrschenden Gesell­schaft nicht ausschließlich auf die Leitung und Überwachung des von der Gesellschaft betrie­benen Unternehmens beschränken dürfen […].“
  • Bei der Frage, wie genau diese Konzernleitung auszusehen hat, besteht allerdings ein ge­wisses Ermessen im Sinne der Business Judgement Rule […]. Je nach Lage des Einzelfalls hat die „Kon­zernleitung“ straffer oder lockerer zu erfolgen […], wobei es unter anderem auch darauf an­kommen wird, ob eine „unternehmerische“ oder eine „kapitalistische“ (vermögensveranlagen­de) Beteiligung vorliegt […].“
  • „[…] ist im Konzern grundsätzlich von einer konzernweiten Wirkung von Zustimmungsklau­seln auszugehen: Hat eine Transaktion in einer Tochter- oder Enkelgesellschaft eine bedeu­tende Auswirkung auf den Konzern und somit die Muttergesellschaft (Konzernobergesell­schaft), so ist ein Zustimmungsvorbehalt auch zugunsten des Aufsichtsrats der Muttergesell­schaft vorzusehen […]. Den Aufsichtsrat kann somit die Verpflichtung treffen, den Zustim­mungsvorbehalt auf außerordentliche Geschäftsführungsmaßnahmen von Beteiligungsge­sellschaften zu erstrecken, und zwar dann, wenn diese wesentliche Auswirkungen auf den Ge­samtkonzern, insbesondere auf die Muttergesellschaft, haben; maßgebend dafür ist der Ge­danke, dass sich das wirtschaftliche Risiko in derartigen Fällen üblicherweise bei der Mutterge­sellschaft realisiert, auch wenn die Maßnahme durch eine Beteiligungsgesellschaft vollzogen wird […].“ (Anmerkung: Dieser Text erscheint widersprüchlich. Entweder ist von einer kon­zernweiten Wirkung „auszugehen“ oder es ist eine konzernweite Geltung eigens anzuordnen. Ob es eine Zweifelsregelung zugunsten eines Konzernbezugs allgemeiner Zustimmungsklau­seln gibt, ist allerdings in der Literatur umstritten.)

Die OGH-Entscheidung ist eine neuerliche Mahnung zur Vorsicht, was die Organtätigkeit in Konzernen anbelangt. Grundsätzlich haben sich die Organe der Muttergesellschaft für die Konzernleitung zu interessieren und eine solche im erforderlichen Ausmaß auch zu etablieren. Der Hinweis des OGH, dass ein unternehmerisches Ermessen bei der Konzernleitung besteht, ist zutreffend, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man über die Grenzen des Ermessens auch streiten kann. Ermessens­entscheidungen beruhen zudem auf ausreichender Information, sodass auf den Informationsfluss zu achten ist. Regelmäßig wird man sich als Organ daher nicht darauf berufen können, dass es im eigenen Ermessen lag, Informationen nicht einzuholen, obwohl die Informationsbeschaffung möglich war. Das wird m.E. in der Regel nur bei a priori für die eigene Gesellschaft unwesentlichen Informa­tionen aus dem Konzern vertretbar sein oder wenn die Informationsbesorgung ausnahmsweise mit einem Aufwand verbun­den ist, welcher im Rahmen einer unternehmerischen Abwägung gegen die Informations­beschaffung spricht.

Die OGH-Entscheidung zeigt auch, dass es im Einzelfall zweckmäßig sein kann, den Wünschen anderer Organe nachzukommen, wenn dies nicht den Interessen der eigenen Gesellschaft widerspricht. Hierzu passt auch die – auf den ersten Blick nicht leicht verständliche – Anmerkung des OGH:

Allerdings entspricht es der üblichen Praxis, dass den Vorständen der Konzerngesellschaften von der Konzernleitung (etwa dem Vorstand der Obergesellschaft) Weisungen erteilt werden, die auch ungeachtet der Weisungsfreiheit nach § 70 Abs 1 AktG de facto befolgt werden; dass konzernrechtliche Weisungen nicht schlechthin der Nichtigkeit anheimfallen, solange sie den Vorstand nicht an der Wahrung der Unternehmensinteressen der beherrschten Gesellschaft hindern, erscheint nach der Entscheidung 9 ObA 28/07v als gangbare Lösung, um das beträchtliche Interesse der Wirtschaft an „funktionierenden“ Konzernen mit der zwingenden Regelung des § 70 AktG in Einklang zu bringen […].“

Dieser Hinweis ist – aufgrund seiner nicht sehr exakten Formulierung – m.E. skeptisch zu hinter­fragen: Während es sich bei der darin zitierten, älteren OGH-Entscheidung um eine arbeitsrechtliche Entscheidung des 9. Senats handelt (kritisch hierzu schon Jabornegg, DRdA 2009/45), wiederholt nun der 6. Senat die Aussagen. In der Entscheidung des 9. Se­nats wurde die Frage, wie sich solche faktischen Weisungen zur Weisungsfreiheit des Vorstands der AG verhalten, offengelassen. Warum diese Aussage in der neuen Entscheidung wiederkehrt, ist m.E. durch schlichte Lektüre der Ent­scheidung nicht eindeutig zu beantworten. Fraglich ist auch, was aus der „nicht schlecht­hin“ vorhan­denen „Nichtigkeit“ folgt. Wenn damit eine partielle Wirksamkeit gemeint ist, könnte sich diese (rich­tigerweise) auf den zustimmenden, nicht den verpflichtenden Aspekt einer Weisung be­ziehen: Der Vorstand einer (100%igen) Obergesellschaft erklärt – „als Hauptversammlung“ der Tochtergesellschaft –, dass die Befolgung der faktischen Weisung in Ordnung geht (allerdings könnte sich hier u.U. ein Wirk­samkeitsproblem im Kontext des Verbots der Einlagenrück­gewähr ergeben). Der Verweis des OGH auf den Beitrag von Schima/Arlt (in Haberer/Krejci, Konzernrecht Rz 9.29, 9.122 ff) legt nahe, dass es darum geht, dass der Vorstand einer Konzerngesellschaft das Konzern­interesse im Rahmen des § 70 AktG (dort: „Be­rücksichtigung der Interessen der Aktionäre“) zu berück­sichtigen hat, was aber nicht auf einen Vorrang des Konzerninteresses hinausläuft, sondern der Sorg­falt als maßgebliches Kriterium ihren Anwen­dungsbereich belässt.

Der OGH hat – wie oben erwähnt – sogar eine Verpflichtung der Mitglieder des Geschäftsführungs­organs bejaht, den Wünschen des Aufsichtsrats bezüglich der Kontrolle der Tochterge­sellschaften nachzukommen. Das ist aber nicht nur für das Aktienrecht bemerkenswert, sondern etwa auch für das GmbH-Recht, weil auch dort (grundsätzlich) keine Weisungsbefugnis des Aufsichtsrats außerhalb seiner Kontrollrechte besteht. Der OGH dehnt in der nunmehrigen Entscheidung das Kon­trollrecht des § 95 Abs. 5 AktG (bzw. § 30j Abs. 5 GmbHG) aus. Mit der Weisungsfreiheit des Vorstands (abge­leitet aus § 70 AktG), welche gerade auch die Dispositionsmöglichkeiten der Hauptversamm­lung beschränkt, hat dies im Grunde wenig zu tun.

An der Entscheidung des OGH wird sich die Praxis dennoch auszurichten haben. Das bedeutet zugleich eine „neue“ Verantwortlichkeit für den Aufsichtsrat, denn „Rechte“ von Organen sind „Pflicht­rechte“: Von Rechten ist im Interesse der Gesellschaft Gebrauch zu machen, andernfalls droht eine Haftung. Die Aufsichtsräte von Konzernunternehmen werden daher gut daran tun, künftig auch die Möglichkeit kaskadenartiger Zustimmungserfordernisse stärker in den Blick zu nehmen. Geschäftsfüh­rungsorgane von Muttergesellschaften werden weiterhin Konzernweisungen erteilen, doch ist fraglich, ob diese bei Konzerngesellschaften in Rechtsform einer AG ausreichen. Sollten diese nämlich nicht stets befolgt werden, wird das Geschäftsführungsorgan der Muttergesellschaft – nunmehr auch aufgrund seiner vom OGH bejahten Verpflichtung, den Wünschen des Aufsichtsrats zu folgen – weiter­gehende Schritte ergreifen.

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