Geschäftsführerhaftung, Prozessführung

Themenreihe „Der Geschäftsführer“: Die Briefkastenadresse, das Versäumungsurteil und der Geschäftsführer – OGH 21.11.2022, 8 Ob 139/22g

Themenreihe „Geschäftsführer“

Die Briefkastenadresse:

Mitunter verwenden Unternehmen als Geschäftsadresse die Geschäftsadresse ihrer Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwaltskanzleien oder sonstiger Geschäftspartner. Das kann sachlich gerechtfertigt sein, etwa bei einem gerade gegründeten Unternehmen, welches die eigenen Geschäftsräumlichkeiten erst beziehen muss. Eine Briefkastenadresse ist m.E. a priori somit nicht zwingend rechtswidrig, sondern das hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. für mit Briefkastenadressen zusammenhängenden Fragen z.B.: EuGH 15.11.2017, Geissel und Butin, C-374/16, C-375/16 zur steuerlichen Anerkennung einer Briefkastenadresse; vgl. Radlwimmer/Berger in Berger/Bürgler/Kanduth-Kristen/Wakounig, UStG-ON3.02 Art 28 BMR zu UStR 2000 Rz 4344, sofern es sich nicht um Briefkastenunternehmen handelt)

Die Erfahrung zeigt aber, dass Briefkastenadressen risikoreich sein können. Die aktuelle Entscheidung vom 21.11.2022, 8 Ob 139/22g, zeigt ein solches Risiko im Zusammenhang mit der Zustellung einer Klage von über EUR 800.000,00 auf:

Eine GmbH verwendete für ihre Geschäftsadresse die Geschäftsadresse ihres Steuerberaters und dürfte dort sogar Räumlichkeiten angemietet haben. Selbst im Firmenbuch war die Adresse der Steuerberatungskanzlei als Geschäftsanschrift eingetragen. Freilich waren die (angemieteten) Räumlichkeiten unbesetzt und der Geschäftsführer nur selten anwesend, weshalb der Geschäftsführer den Buchhalter des Steuerberaters mit einer Postvollmacht ausstattete (§ 13 Abs 2 ZustG).

Die Post hinterließ im Sekretariat der Steuerberatungskanzlei eine Hinterlegungsverständigung (§ 17 ZustG), weil der Buchhalter nicht anwesend war und ihm deshalb die Klage über EUR 800.000,00 nicht ausgefolgt werden konnte. Die Hinterlegungsverständigung blieb wohl unbeachtet: Nach dem Sachverhalt erließ nämlich das Prozessgericht ein Versäumungsurteil, weil die beklagte GmbH keine Klagebeantwortung erstatte. Das zuzustellende Versäumungsurteil konnte wiederum nicht (an den Buchhalter) ausgefolgt werden, sodass erneuert eine Hinterlegungsverständigung im Sekretariat des Steuerberaters – wohl wiederum unbeachtet – hinterlassen wurde. Das Versäumungsurteil wurde rechtskräftig und vollstreckbar.

Etwas später erlangte der Geschäftsführer Kenntnis von dem vollstreckbaren Versäumungsurteil, erhob Widerspruch und begehrte die Aufhebung der Vollstreckbarkeit.

Postvollmacht begründet keine Abgabenstelle:

Zutreffend stellte der OGH zunächst fest, dass die Postvollmacht des Buchhalters für sich keine Abgabenstelle (§ 2 Z 4 ZustG) begründet, wenn er selbst nicht als Empfänger ausgewiesen ist (anders beim Zustellbevollmächtigten nach § 9 ZustG). Insoweit hätte auch keine Hinterlegung stattfinden dürfen, weil eine Hinterlegung nur bei einer Abgabenstelle erfolgen darf.

Laufende Anwesenheit des Geschäftsführers begründet aber eine Abgabenstelle:

Eine wirksame Zustellung an die Beklagte hätte nach zutreffender Ansicht des OGH somit erfordert, dass es sich bei der Steuerberatungskanzlei um eine Abgabestelle handelte. Nach § 2 Z 4 ZustG sei „Abgabestelle“ unter anderem der Sitz, die Betriebsstätte oder der Geschäftsraum des Empfängers. Unter „Sitz“ ist nach den Ausführungen des OGH jener Raum zu verstehen, an dem die (zentrale) Verwaltung der juristischen Person tatsächlich geführt wird, womit die Eintragung der Geschäftsanschrift im Firmenbuch für sich genommen noch nicht bedeutet, dass an dieser Adresse wirksam zugestellt werden könnte (OGH RIS-Justiz RS0110249).

Es kann aber eine Abgabenstelle der beklagten GmbH in der Steuerberatungskanzlei dann begründet sein, wenn sich der Geschäftsführer regelmäßig in der Steuerberatungskanzlei aufgehalten hätte; diesfalls wäre die Zustellung der Klage durch Hinterlegungsverständigung wirksam.

Auch bei einem Versäumungsurteil kann sich der Beklagte mit einem Widerspruch wehren:

Auch bei wirksamer Zustellung der Klage, unterlassener Klagebeantwortung und Erlass des Versäumungsurteils kann sich eine beklagte Partei u.a. durch Widerspruch wehren: Der Widerspruch kann binnen einer Notfrist von 14 Tagen ab Zustellung des Versäumungsurteils (§ 397a Abs 2 ZPO) beim Prozessgericht erhoben werden und bedarf keiner Begründung (!). IdZ soll nicht unerwähnt bleiben, dass es noch alternative Möglichkeiten gibt, die aber nicht verfahrensgegenständlich waren.

Aber es muss eine Notfrist von 14 Tagen nach Zustellung des Versäumungsurteils eingehalten werden:

Entscheidend war, ob die Zustellung des Versäumungsurteils wirksam erfolgte, weil ab diesem Zeitpunkt die Notfrist von 14 Tagen beginnt.

Die Zustellung des Versäumungsurteils erfolgte aber erneuert durch eine Hinterlegung bzw. Hinterlegungsverständigung. Doch auch hier versäumte der Geschäftsführer die Notfrist für den Widerspruch, weil er zu spät vom Versäumungsurteil Kenntnis erlangte. Das hat wohl seinen Grund darin, dass die GmbH zwischenzeitig auf einer Nachbarliegenschaft Büroräumlichkeiten bezogen hatte.

Wurde das Versäumungsurteil durch Hinterlegung wirksam zugestellt und die Notfrist eingehalten?

Wäre der Geschäftsführer im Zeitpunkt der Zustellung des Versäumungsurteils regelmäßig in der Steuerberatungskanzlei anwesend gewesen, so wäre die Hinterlegung wirksam, weil damit die Steuerberaterkanzlei als eine Abgabenstelle zu qualifizieren wäre.

Wäre der Geschäftsführer nur im Zeitpunkt der Klagszustellung (und später nicht mehr) regelmäßig anwesend gewesen, so wäre die Steuerberaterkanzlei zum Zeitpunkt der Zustellung des Versäumungsurteils keine Abgabenstelle (und die Hinterlegung unzulässig). Allerdings hätte nach Auffassung des OGH der Geschäftsführer dem Prozessgericht die Änderung der Abgabenstelle (= neu bezogene Büroräumlichkeiten) nach § 8 Abs 1 ZustG bekannt geben müssen. Der OGH stellt m.E. somit nicht auf die tatsächliche Kenntnis des Geschäftsführers von dem anhängigen Prozess ab, sondern knüpft die Verpflichtung zur Bekanntgabe  an die wirksame Zustellung der Klage an (vgl. auch Klauser/Kodek, JN – ZPO 18. Auflage  § 8 ZustG E.2 [Stand 1.9.20188, rdb.at]). Eine Bekanntgabe erfolgte zwangsläufig nicht, da der Geschäftsführer vermutlich von der Klage und von dem Versäumungsurteil nichts wusste.

Ohne Bekanntgabe darf aber durch Hinterlegungsverständigung an die Steuerberatungskanzlei zugestellt werden, falls eine neue Abgabenstelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann (§ 8 Abs 2 ZustG). Tatsächlich wandte die beklagte GmbH ein, dass im Firmenbuch die neue Büroadresse eingetragen und deshalb feststellbar war. Der OGH verwarf diesen Einwand aber, weil das Prozessgericht keinen Grund für eigene Nachforschungen hatte und daher die neue Büroadresse nicht feststellen konnte (und musste).

Im Ergebnis hätte die beklagte GmbH die Notfrist für den Widerspruch versäumt, wenn der Geschäftsführer zum Zeitpunkt der Zustellung der Klage und/oder im Zeitpunkt der Zustellung des Versäumungsurteils regelmäßig in der Steuerberatungskanzlei anwesend war; bejahendenfalls droht der GmbH ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil, dass sie zur Zahlung von über EUR 800.000,00 verpflichtet. Im konkreten Fall verwies der OGH das Verfahren zur Verfahrensergänzung in die erste Instanz zurück, weil es zur regelmäßigen Anwesenheit des Geschäftsführers an Feststellungen fehlte.

FAZIT:

Im Ergebnis zeigt sich, dass Briefkastenadressen ein Risiko mit sich bringen und daher zur Risikovermeidung organisatorisch entgegengewirkt werden sollte, sofern sich die Einrichtung einer Briefkastenadresse nicht vermeiden lässt. Denn letztlich geht es um die Sorgfalt des Geschäftsführers und um dessen Haftung (§ 25 GmbHG).

 

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